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Crisis? What crisis? - Brauchen wir überhaupt Regulierung?

Die meisten von uns werden bei dem Wort „Finanzkrise“ an die Weltwirtschaftskrise 1929 und an die Große Finanzkrise 2007 denken.

Tatsächlich sind Finanzkrisen jedoch schon wesentlich länger Teil unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Die Forschung konnte belegen, dass in den vergangenen 800 Jahren immer wieder Finanzkrisen auftraten, im Durchschnitt 12 Krisen pro Jahrhundert (1). Man kann also sagen, dass es in der Vergangenheit regelhaft fast alle 8-10 Jahre zu krisenhaften Situationen in der Wirtschaft und den Kapitalmärkten kam.

 

In der Tat gab es weltweit Anstrengungen, aus der Weltwirtschaftskrise zu lernen und Konsequenzen für ein stabileres Finanzsystem zu schaffen. Roosevelt führte nicht nur Sozialleistungen und -absicherungen ein, er rief auch die Börsenaufsicht ins Leben und schuf damit eine Regulierungsbehörde. Der 2. Glass-Steagall-Act von 1933 führte zu einer strikten Trennung zwischen Institutionen, die im Kunden- und Kreditgeschäftswesen aktiv waren und jenen, die im Wertpapiergeschäft tätig waren. 1944 wurde mit der Konferenz von Bretton Woods eine weltweite Währungsreform durchgeführt, in deren Ergebnis ein festes Wechselkurssystem, eine Leitwährung (US-Dollar) und eine Bindung dieser Leitwährung an Gold beschlossen wurden.

Die Weltwirtschaft trat in eine relativ lange stabile Phase ein.

 

1970 wurden Teile der Vereinbarungen von Bretton Woods abgeschafft und sofort traten wieder vermehrt Krisen im Finanz- und Wirtschaftssektor auf. Die Aufhebung des 2. Glass-Steagall Acts 1999 beschleunigte diesen Prozess. Die Effizienztheorie, der Glaube an die Selbstregulierung der Märkte, war eine Triebfeder, die zu dieser Entwicklung beitrug.

Heute ist allgemein anerkannt, dass eine den Märkten innewohnende eigene Effizienz eine Illusion ist.

Warum ist das so?

Eine der führenden Hypothesen für diese Instabilität stammt von Hyman Minsky (2). Er postulierte, dass Instabilität ein Kernelement kapitalistischer Systeme ist und den Strukturen und Instrumenten des Finanzkapitalismus Krisen innewohnen.

In den 70er und 80er Jahren schritt die Deregulierung der Märkte rasch voran. Susan Strange (3) beobachtete, dass die Finanzindustrie neue Finanzprodukte auf die Märkte brachte, die hochspekulatives Anlege-Verhalten begünstigten. Wetten auf ökonomische Veränderungen wurde wichtiger als Investitionen, die sich an der Entwicklung der Realwirtschaft orientierten. Die Prozesse wurden durch einen Mangel an Aufsicht und Regulierung begünstigt, eine Entwicklung, die sie als „Casino-Kapitalismus“ bezeichnete.

Kapitalistische Gesellschaften wurden zunehmend abhängig von den Aktienmärkten, primär privatwirtschaftliche Finanzinstitutionen wie Hedgefonds und Investmentfonds verfügten zunehmend über derart große Vermögenswerte, dass man sie als „Schattenbanken“ betrachten muss, allerdings ohne jene Regeln, wie sie für echte Banken gelten. Intermediäre und weitere Marktakteure wie Ratingagenturen, die Bewertungen und Bonitätprüfungen übernahmen, beschleunigten diesen Prozess (Finanzmarktkapitalismus).

In der Folge entkoppeln sich die Finanzmärkte von der Realwirtschaft. Die Wirtschaft muss sich unter diesem Druck immer mehr an der Finanzindustrie ausrichten. Während Banken in den 50er und 60er Jahren noch als Dienstleister den Unternehmen zur Seite standen, müssen Firmen und Unternehmen heute immer stärker die Erwartungen der Finanzindustrie befriedigen. Die Macht wanderte weg von der Wirtschaft und damit auch von der Gesellschaft hin zur Finanzindustrie. Die Kosten dieser Entwicklung werden auf die Allgemeinheit übertragen, Gewinne hingegen werden im System internalisiert - ein Prozess, der Finanzialisierung genannt wird.

 

Priewe (4) konnte folgende Hauptursachen für diese Entwicklung eruieren:

  1. Es bestehen erhebliche Informationsasymmetrien zwischen den verschiedenen Marktteilnehmern. Nicht allen Marktteilnehmern stehen alle Informationen gleichzeitig und in gleichen Ausmaß zur Verfügung. Das gilt vor allem für Haushaltsanleger. Mehr Informationen zu haben bedeutet aber, etwas über den Markt zu wissen, was andere nicht wissen, ein Zeitvorteil, der zu entsprechenden Gewinnen führen kann. Dabei geht es nicht um vereinzelte Informationen, sondern um die systematische Benachteiligung derer, die nicht schnell genug oder gar nicht an die Informationen kommen. Bestimmte wichtige Marktdaten sind zum Beispiel für Privatanleger überhaupt nicht einsehbar.
  2. Der Versuch, Finanzinstrumente zu entwickeln, die die Risiken in den Kapitalmärkten absichern sollten, hat dazu geführt, dass diese Instrumente überhaupt erst zur Krise geführt haben. Ein bekanntes Beispiel für das Versagen der Regulierungsfunktion haben wir bei den Credit Default Swaps gesehen.
  3. Ratingagenturen sind nicht unabhängig und neutral, sondern sie verfolgen eigene wirtschaftliche Interessen, die zu eindeutigen Interessenskonflikten führen.
  4. Kapitalmärkte können sich nicht ausreichend selbst regulieren, wie Blasenbildungen zeigen.
  5. Typischerweise kommt es regelhaft auch zu einem Versagen der Politik in ihrer Funktion als gesetzgebende Struktur (unzureichende oder ineffektive Regulierung) und unzureichende staatliche Kontrolle (unabhängige Aufsicht).

Tiefliegendere Ursachen sind globale Ungleichgewichte, die oben schon beschriebene Finanzialisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere der Ökonomie und eine daraus resultierende wachsende ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen.

 

Wann reden wir von einer Finanzkrise?

Krise ist nicht gleich Krise. Wir unterscheiden Bankenkrisen, Finanzsystemkrisen, Währungskrisen und Staatsschuldenkrise. Kritisch wird es, wenn die Krisen nicht mehr einzeln, sondern in Gruppen als Zweier- oder Dreierkrisen auftreten. Am gefürchtetsten sind jedoch zu Recht globale Finanzkrisen, wenn alle 4 Finanzbereiche zeitgleich betroffen sind.

 

 

Finanzkrisen und ihre Folgen

Die Euro-Finanzkrise 2007-2009 führte dazu, dass die europäische Staatengemeinschaft der EU Verbindlichkeiten in Höhe von 4,5 Billionen Euro absichern musste. Eine immense Summe! Geld, das für lange Zeit für andere wichtige Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stand und steht. Die risikoreichen Geschäfte bestimmter Finanzinstitutionen mussten von den Staaten übernommen werden und werden auch uns in Deutschland noch lange beschäftigen. Die toxischen Papiere der deutschen Banken zum Beispiel werden wir noch bis in die 2030er Jahre hinein abarbeiten müssen.

 

Derart große Finanzkrisen wirken sich nachhaltig und gravierend auf die Gesellschaft aus (5):

  • Aktienmärkte brechen im Durchschnitt um 56% ein und verbleiben im Mittel für 3 1/2 Jahre auf diesem Niveau
  • Immobilienpreise sinken um 35% und verharren dort im Schnitt 6 Jahre
  • Die Wirtschaftsleistung sinkt um durchschnittlich 9% und bleibt dort mindestens 2 Jahre.
  • Arbeitslosigkeit folgt dieser Entwicklung auf den Schritt, steigt um 7% im Schnitt an und verbleibt auf dieser Höhe für ca. 4 Jahre. In der Euro-Finanzkrise stieg besonders dramatisch die Jugendarbeitslosigkeit in den südeuropäischen Ländern, vor allem in Spanien und Portugal und hat sich immer noch nicht wieder normalisiert
  • Am gravierendsten jedoch ist die Explosion der Staatsverschuldung, die im Durchschnitt um 86% (!!) steigt.

 

Leider verbleiben die Folgen der Krisen immer nur kurz im Gedächtnis und spätestens bei Auftreten der nächsten Krise fragen sich alle: Wie konnte das nun wieder passieren? Weil der Irrglaube vorherrscht, dass die aktuelle Situation ganz anders sei als bei früheren Krisen.

 

Und damit stellt sich die zentrale Frage: Können wir uns das überhaupt leisten?

Nein. Natürlich nicht. Aus den genannten Gründen ist eine effektive und sinnvolle Regulierung der Kapitalmärkte unausweichlich. Regulierung muss anpassungsfähig sein, sie muss sich schnell an sich ändernde Situationen anpassen können, sie muss aber auch durch unabhängige Instanzen und in einem transparenten Verfahren beaufsichtigt werden! Und wer sich an die Regeln nicht hält, muss spürbare Konsequenzen erleben, die wirksam sind und nicht als „cost of business“ eingepreist und an den Endkunden weitergegeben werden können.

 

Literatur:

  1. Reinhart, Carmen; Rogoff, Kenneth 2010. Dieses Mal ist alles anders - Acht Jahrhunderte Finanzkrisen. München: FinanzBuch Verlag
  2. https://www.levyinstitute.org/pubs/wp74.pdf
  3. Strange, Susan 1986. Casino Capitalism. Oxford: Basil Blackwell
  4. Priewe, Jan 2010. Von der Subprimekrise zur Weltwirtschaftskrise — unterschiedliche Erklärungsmuster. Wirtschaftsdienst 90, 92–100
  5. Reinhard, Carmen; Rogoff, Kenneth 2010. https://www.nber.org/papers/w14656
  6. Machnig, Jan 2011: Die Krise der Ökonomie als Krise der Politik? Berlin: Verlag Rotation